In diesem Interview mit Dr. Joachim Schwerin, Principal Economist in der Generaldirektion Internal Market, Industry, Enterpreneurship und KMU bei der Europäischen Kommission, sprechen wir über seine Sicht und jene der Kommission zur Zukunft der Token-Ökonomie in Europa. Mit der neuen Verordnung, die die Märkte für Krypto-Assets (Markets in Crypto Assets, MiCA) betrifft, macht die Kommission einen mutigen Vorstoß. Was steckt hinter der neuen Verordnung und wie sieht die Vision für die Zukunft?
Der kürzlich angekündigte MiCA-Vorschlag wurde im Blockchain- und Kryptobereich, deren regulatorische Klärung dringend erforderlich ist, positiv aufgenommen. Könnten Sie Ihre Vision, die sich, wie ich vermute, mit der der Kommission deckt, hinter MiCA erläutern?
Die vorgeschlagene Verordnung ist Teil eines umfassenderen Pakets, der Strategie für digitale Finanzen, das am 24. September 2020 verabschiedet wurde. Diese Strategie umfasst mehrere Elemente, von denen zwei für jene Anwendungen, die auf Distributed-Ledger-Technologien aufbauen, relevant sind: Zum einen MiCA und zum anderen unsere innovative und neue Regelung für Marktinfrastrukturen auf Basis der Distributed-Ledger-Technologie (DLT). Diese sollen ein sicheres regulatorisches Umfeld schaffen, damit wir die innovativen DLT-basierten Finanzmarktinfrastrukturen in der EU erproben können.
Die Vision hinter diesem Paket ist sogar noch weitreichender. Die Strategie für digitale Finanzen ist eng mit der EU-Digitalstrategie (verabschiedet am 19. Februar 2020) sowie der EU-KMU-Strategie (verabschiedet am 10. März 2020) verbunden. Letztere enthält bereits zwei spezifische Maßnahmen, die das Thema Block-Chain für KMUs betrachten: die Weiterbildungsmöglichkeiten im Bereich Digitalisierung und das Ziel, KMUs die Ausgabe von Krypto-Assets und digitalen Token zu ermöglichen. Diese stellen die wichtigste Priorität der Kommission im Mittelpunkt: die Digitalisierung unserer Wirtschaft
Ich denke, die allgemein positive Marktreaktion auf den MiCA-Vorschlag ist vor allem auf die sorgfältige Abwägung zwischen der Verbesserung der Rechtssicherheit einerseits und der Förderung des erheblichen Innovationspotenzials von DLT andererseits zurückzuführen. Wir haben uns für einen sorgfältig durchdachten, risikobasierten Ansatz entschieden, um eine neue Kategorie Tokens zu schaffen: Krypto-Vermögenswerte, die generell reguliert sind, aber nicht den strengen Regelungen der Wertpapiergesetze unterliegen. Dies fördert Innovation durch dieschnellere Ausgabe von Tokens, die Harmonisierung der Vorschriften im Binnenmarkt und die Öffnung der EU für jede Art von Token, solange die klar formulierten Vorschriften der MiCA eingehalten werden. Dies ist im Wesentlichen ein marktgesteuerter bottom-up Prozess der Digitalisierung und Tokenisierung, der von den Erkenntnissen aus dezentralisierten, alternativen Finanzierungen und Crowdfunding profitiert.
Wann haben Sie erkannt, dass Blockchain und Krypto ein ernstzunehmendes Thema sind, bei dem es um viel mehr geht als dubiose Betrügereien?
Ich habe nie geglaubt, dass es sich bei Blockchain und Kryptowährungen um „dubiosen Betrug“ handelt, und ich wüsste nicht, dass jemand in der Kommission jemals eine solche Meinung geäußert hätte. Im Gegenteil: Die ersten Kryptowährungen waren für mich sehr interessant, weil Sie für wichtige Werte stehen: Unternehmertum, Dezentralisierung, Privatsphäre und Widerstand gegen eine zunehmende Überwachung, die in unserer Gesellschaft immer gegenwärtiger wird. Aber natürlich habe auch ich - wie alle Beteiligten - ein wenig gebraucht, bis ich das volle Potenzial von Kryptowährungen erkannt habe. Bis vor sechs oder sieben Jahren habe ich geglaubt, dass Kryptowährungen nicht mehr sind als eine nette Spielerei– mehr nicht.
Der Knackpunkt liegt für mich in der klaren Abgrenzung der ersten, eher groben Anwendungen der Blockchain von der Technologie als solcher. An den ersten Spielereien konnten sich alle beteiligen, aber um das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken und die Investition von Steuergeldern zu erlauben, muss es einen Mehrwert für die Allgemeinheit geben, der über spekulative Gewinne für Investoren hinausgeht.
Erinnern Sie sich an ein bestimmtes Ereignis, das Sie vom Potenzial der Blockchain-Technologie und der Kryptowelt überzeugt hat?
Es gab ein Brainstorming innerhalb der Europäischen Kommission im Jahr 2015, als alle Kommissionsbeamten aufgefordert wurden, die Innovationsprioritäten der EU für die nächsten Jahrzehnte vorzuschlagen. Mein Vorschlag war die Blockchain und ihre Anwendungen : In der Realwirtschaft in allen Sektoren und Wertschöpfungsketten.
"Aus einer globalen Perspektive bietet die Blockchain eindeutige Vorteile: Sie senkt Transaktionskosten und -zeit, aber viel wichtiger ist, dass sie überall und jederzeit ein vertrauenswürdiges und sicheres Umfeld für Fremde schafft, die sich sonst nicht vertrauen: Das definiert heute die Token-Wirtschaft.”
Dieses Brainstorming hat gezeigt, dass Blockchain auch in vielen anderen politischen Bereichen ein bedeutsames Thema ist . Der 2016 veröffentlichte Bericht "Opportunity Now: Europe's Mission to Innovate" legt die feste Absicht der Kommission dar, "gemeinsam ... einige mutige Wetten auf potenziell bahnbrechende Technologien einzugehen, nämlich Genomik, das Gehirn, Distributed Ledger und Quantum." Blockchain war 2015/16 eine der vier Innovationen, die unsere Gesellschaft nachhaltig verändern würden. Dank dieser theoretischen Auseinandersetzung vor etwas mehr als fünf Jahren hatte die Kommission den nötigen Zeitvorsprung, um sich ernsthaft mit den verschiedenen Akteuren im Blockchain-/Krypto-Universum auseinanderzusetzen.
Mit dem aufkommendem Hype um Initial Coin Offerings (ICO) im Jahr 2017 waren wir bereit, ihr Potenzial zu verstehen und uns auf Maßnahmen vorzubereiten - trotz der vielfältigen Mängel, die damals noch in vielen Geschäftsmodellen vorherrschten.
Wie würden Sie die Entwicklung des Blockchain- und Krypto-Bereichs in Zukunft sehen?
Ich persönlich bevorzuge das Szenario einer Token-Wirtschaft, d. h. die Entstehung eines disintermediären Ökosystems, in dem KMU aller Größen und Branchen - immerhin 99 % der Unternehmen in der EU - mit Handelspartnern, Kunden und Investoren nahtlos in einem sicheren, digitalen Umfeld interagieren können.
Disintermediation bedeutet nicht, dass es gar keine Intermediäre mehr gibt, sondern dass vertrauenswürdige Zwischenhändler entstehen, die einen echten Mehrwert schaffen, und zwar ohne all die "Gatekeeper", die extrem hohe Kosten verlangen und nebenbei Daten veräußern, ohne dabei echte Vorteile zu bieten.
" "In der Token-Ökonomie interagieren Angebot und Nachfrage direkt auf sicheren und vernetzten Plattformen, während alle Daten das Eigentum der betroffenen Person bleiben. Damit stehen sie im Einklang den europäischen Grundrechten..”
Transaktionen mit Token - d. h. Bündel digitaler Rechte und Pflichten - basieren auf intelligenten Verträgen in Kombination mit digitalen (Mikro-)Zahlungssystemen, die dem Zivilrecht unterliegen und wirksam durchsetzbar sind. Die Wertschöpfungsketten werden vollständig integriert und auf einer paneuropäischen, nicht-oligopolistischen Blockchain-Architektur basieren. Um die Token-Wirtschaft auch für KMU attraktiv zu machen, muss auch das lokale Umfeld eingebunden werden: sowohl als Kunden als auch als Mikroinvestoren.
Welches sind die wichtigsten Herausforderungen und Chancen in diesem Szenario?
Ich sehe zwei wichtige Herausforderungen, die es zu meistern gilt: Erstens dürfen wir uns vo nRückschlägen aus dem alten System, wie gelegentliche technologische Sackgassen oder kleine Krypto-Betrügerein, nicht entmutigen lassen, Zweitens müssen wir die Grundprinzipien schützen, auf denen eine Token-Wirtschaft beruht: Privatsphäre, soziale Inklusion und technologiegestütztes Vertrauen. Und zwar außerhalb der Reichweite und Kontrolle vermeintlich "interessierter Parteien", die nur ihre private Agenda verfolgen.
Demgegenüber stehen die klaren Chancen einer solchen Token-Wirtschaft in Europa: eine allumfassende Demokratisierung von Finanzen, Produktion und Handel.
Mehrere Länder haben sich im Bereich Blockchain und Krypto als recht fortschrittlich erwiesen - wie die Schweiz, Deutschland, Liechtenstein und andere. Inwieweit wurde Ihre Arbeit von einigen dieser Länder inspiriert - und vielleicht auch von fortschrittlichen Ländern außerhalb Europas?
Wir leben in einer Epoche des unglaublich schnellen technologischen Wandels in vielen Bereichen. Da diese zunehmend miteinander interagieren, wird sich das Innovationstempo weiter beschleunigen. Unternehmer treiben diesen Prozess an, nicht die Länder. Meiner Meinung nach sind Länder dann "fortschrittlich", wenn ihre Regulierungsbehörden in der Lage sind, die Bedürfnisse von Unternehmern zu verstehen, und wenn sie die Regulierung auf das absolute Minimum beschränken. So kann der Schutz gravierenden Risiken gewährleistet werden, es wird aber nicht alles beschränkt, was auf den ersten Blick unverständlich oder zweifelhaft erscheinen mag.
Immer mehr Länder bereiten sich auf angeblich innovationsfördernde Regeln vor oder haben diese bereits verabschiedet. Wenn das Ziel jedoch darin besteht, kurzfristige Vorteile zu erlangen, oder wenn diese Regeln auf Teile des Kryptoimperiums beschränkt bleiben, wird diese Strategie scheitern.
Nachhaltig fortschrittlich zu sein bedeutet, mit tiefgreifenden philosophischen, ethischen und sozioökonomischen Überlegungen zu beginnen, die zu kohärenten Änderungen führen: nicht nur der Regulierung, sondern auch des Zivilrechts, der Besteuerung, der Governance-Modelle, die alle Bürger einbeziehen, und vor allem der Bildung. Es überrascht nicht, dass einige skandinavische Länder oder Liechtenstein und die Schweiz, die eine lange und reiche Kultur der liberalen Demokratie und des Unternehmertums haben, im Kryptobereich besonders fortschrittlich sind. Außerdem ist es hilfreich, kein starres Altsystem zu haben, das Innovationen standardmäßig blockiert: Das führt zu einer erbitterten Konkurrenz kleiner Länder im Kryptobereich, die vor zehn Jahren noch niemand auf dem Radar hatte.
Letzten Endes ist es egal, woher gute Ideen kommen, solange sie sich verbreiten können. Außerdem gibt es mehr als einen Weg an die Spitze. Als Wirtschaftshistoriker vergleiche ich die gegenwärtige Epoche mit der Epoche, die vor mehr als 500 Jahren begann - nämlich mit dem Aufbruch Europas in die Welt zur Entdeckung des Planeten, zur Besiedlung und zum Handel. Vor einem halben Jahrtausend übernahmen zwei kleine Länder die Führung, Portugal und die Niederlande, mit zwei sehr unterschiedlichen Regierungsmodellen, aber ähnlichem Erfolg.
Das werden wir auch in zwei bis drei Jahrzehnten rückblickend feststellen. In Europa sind viele unterschiedliche, aber wettbewerbsfähige demokratische und marktwirtschaftliche Geschäfts- und Regierungsmodelle im Rennen. Einige werden sich durchsetzen, wir wissen nur noch nicht, welche. Variation ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Auswahl, und das ist das frühe Stadium, in dem wir uns heute befinden. Wir wissen nicht, wie die Zukunft aussehen wird, aber wir können sehr zuversichtlich sein, dass sich unsere Werte durchsetzen werden.
- Category
- Business Insights
- Tags:
- Corporate
- Data & Security